Wieder eine Nacht

Das muss ich euch erzählen.

Letzte Nacht war anders. Es war… ruhig. ZU ruhig. Normalerweise werde ich spätestens um Mitternacht von einem lauten „Miau“ am Schlafzimmerfenster geweckt, gefolgt von einem Pfotenkratzen an der Scheibe, das so klingt, als hätte sich die Katze – Verzeihung, der Kater – mit einem kleinen Vorschlaghammer bewaffnet. Doch gestern? Nichts. Absolute Stille. Kein einziges Miau, kein sanftes Pfotenklopfen, kein genervtes Kratzen.

Anfangs habe ich mich gefreut. Ich meine, wer schläft nicht gerne mal durch, ohne das Gefühl, von einer plüschigen, vierbeinigen Diktatorin (ja, ich bleibe beim weiblichen Pronomen) terrorisiert zu werden? Ich legte mich auf die Seite, zog die Decke bis zum Kinn und dachte: „Na, dann habe ich heute wohl endlich mal meine Ruhe.“ Falsch gedacht. Diese „Ruhe“ hielt genau eine Stunde, bevor ich hellwach im Bett lag und in die Dunkelheit starrte.

Wo ist sie? Was macht sie? Und warum zur Hölle ist sie nicht hier, um mein Wohnzimmer auf den Kopf zu stellen oder sich auf meinem Kopfkissen breit zu machen?

Schon am Abend, als ich draußen auf der Terrasse saß und meinen Feierabend genießen wollte, hatte ich mich gewundert, dass sie nicht wie sonst aufgetaucht war. Normalerweise stolziert sie irgendwann ganz beiläufig den Weg zum See entlang, als wäre sie die Königin des gesamten Ufers, und schaut dabei in jede Richtung, nur um zu sehen, ob jemand ihr majestätisches Auftreten auch wirklich bemerkt. Ich habe schon damit gerechnet, sie irgendwann mit einer kleinen Krone auf dem Kopf zu sehen.

Aber gestern Abend? Kein haariger Schatten am Horizont, keine forschen Pfotenabdrücke im Gras. Nur ich und das leise Rauschen des Sees. Klar, ich hab mir erstmal nichts dabei gedacht. Vielleicht hatte sie einfach einen langen Tag hinter sich, musste sich noch bei den anderen Nachbarn beschweren oder hatte beschlossen, dass meine Terrasse heute mal nicht zur Besichtigung freigegeben ist.

Doch als die Nacht fortschritt, kroch langsam ein unangenehmes Gefühl in mir hoch. Es war ein seltsames Gefühl, fast wie eine leere Stelle in meinem Abendritual. Normalerweise bereite ich mich ja fast schon auf den nächtlichen Katzenterror vor. Ich habe mittlerweile eine eigene „Notfall-Schlafzimmer-Katze-Besuch“-Routine entwickelt. Die Decke wird vorsorglich etwas höher gezogen (damit sie sich nicht sofort drauf wirft), das Fenster wird so weit geöffnet, dass ich sie zwar reinlassen kann, aber keine Zugluft entsteht, und die Katzen-Leckerli stehen griffbereit auf dem Nachttisch.

Aber gestern? Die Leckerli blieben unangetastet. Das Fenster blieb stumm. Und meine Nerven, die sich normalerweise auf den nächsten „Mitternachts-Miau-Angriff“ einstellen, lagen brach.

„Vielleicht ist sie einfach beschäftigt“, sagte ich mir immer wieder, während ich versuchte, meinen Körper zur Ruhe zu bringen. „Vielleicht hat sie eine Maus im Visier, oder sie hat beschlossen, den Fischbestand im See heute Nacht mal auf Null zu reduzieren.“ Ich redete mir ein, dass es nichts Ungewöhnliches ist, dass sie mal nicht auftaucht. Schließlich gehört sie nicht mir. Aber das half nicht. Die Sorgen blieben. Was, wenn sie irgendwo feststeckt? Oder was, wenn sie sich verletzt hat? Oder – Gott bewahre – was, wenn sie in den See gefallen ist und nicht wieder rausgekommen ist?

Das Bild von ihrem nassen, zitternden Körper, wie ich ihn einmal aus dem Wasser ziehen musste, schob sich sofort in mein Gedächtnis. Damals war sie mehr beleidigt als dankbar, dass ich sie gerettet hatte, aber immerhin war alles gut ausgegangen. Doch diese Nacht… irgendetwas fühlte sich einfach falsch an. Ich wälzte mich hin und her, drehte mich von der linken auf die rechte Seite, und irgendwann war klar: Ich konnte nicht einschlafen.

Gegen vier Uhr morgens gab ich auf. Ich schlich durchs Haus, überprüfte jede Ecke, als könnte sie sich doch irgendwie reingeschlichen haben, und rief leise: „Hier Miez, Miez…“ Ich kam mir bescheuert vor. Das ist die Katze vom Nachbarn, ich erinnerte mich selbst daran. Sie ist wahrscheinlich einfach bei ihm. Also versuchte ich, mir einzureden, dass ich überreagiere.

Aber der Gedanke, dass sie bei mir nicht auftaucht, brannte sich immer weiter in meinen Kopf. Ich öffnete die Haustür und blickte hinaus in die Dunkelheit. Keine Spur von ihr. Der Wind raschelte durch die Blätter, und ich hörte das sanfte Rauschen des Wassers. Kein Pfotenabdruck im Gras, kein leises „Miau“. Einfach nur Stille. Jetzt war es schon keine Sorge mehr, sondern fast schon eine ausgewachsene Paranoia. Was, wenn ihr wirklich etwas passiert ist?

Als der erste Lichtstrahl des Morgens durch das Schlafzimmerfenster fiel, war ich immer noch wach. Die Nacht war vorbei, aber meine Unruhe blieb. Mit schweren Augen und einem Kopf, der sich anfühlte, als wäre er in Watte gepackt, setzte ich mich auf die Bettkante und sah erneut zum Fenster. Nichts. Das war’s, beschloss ich. Jetzt musste ich es wissen.

Ich griff zum Handy und wählte die Nummer des Nachbarn. Ja, es war absurd, ich wusste es selbst, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Es klingelte einmal, zweimal… „Hallo?“, meldete sich die verschlafene Stimme des Nachbarn. Ich merkte, wie mir die Worte fast im Hals stecken blieben. „Hey, entschuldige die Störung, aber… ist bei euch alles in Ordnung? Ich hab die Katze die ganze Nacht nicht gesehen.“

Eine Pause. Ich konnte förmlich hören, wie er den Kopf schüttelte. „Du meinst den Kater?“ „Ja, ja, natürlich… den Kater.“ Wieder eine Pause. „Ähm, ja, alles gut. Er ist hier. Hat gestern Abend wohl beschlossen, dass er mal eine Nacht zu Hause verbringen will.“ Ich blinzelte. „Ach… echt? Er ist bei euch?“

Ein Lachen am anderen Ende. „Ja, natürlich. Wo sollte er sonst sein?“ Ich seufzte erleichtert. „Okay, gut zu wissen. Er hat mich nur… ich meine, ich hab mir Sorgen gemacht.“ „Hast du ihn vermisst?“ „Ja, so ungefähr.“ Wir lachten beide, und ich legte erleichtert auf.

Als ich das Handy weglegte, schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Der Kater hatte es also vorgezogen, mal eine Nacht „daheim“ zu bleiben. Na, das nenne ich mal Frechheit! Hier saß ich, wach und besorgt, während er gemütlich im Nachbarhaus schlief. Typisch.

Jetzt gerade, während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich wieder auf der Terrasse und blicke auf den See hinaus. Und wer spaziert gemächlich am Ufer entlang, als wäre nichts gewesen? Richtig: die Katze. Sie kommt näher, springt auf meine Veranda und setzt sich mit einem verärgerten „Miau“ direkt vor meine Füße. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder schimpfen soll.

„Na, hattest du einen schönen Abend?“, frage ich sie. Ihre Antwort? Sie streckt sich, rollt sich auf der warmen Veranda zusammen und schnurrt leise, als wäre ich derjenige gewesen, der gestern Abend nicht erschienen ist. Ach ja, was soll’s. Willkommen zurück, pelzige Hoheit! Ich werde versuchen, mich nicht wieder in Panik zu versetzen… zumindest bis zur nächsten Nacht.



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